Der Vater des Amokläufers von Winnenden wurde vom Landgericht Stuttgart wegen tateinheitlich begangener fahrlässiger Tötung in 15 Fällen, fahrlässiger Körperverletzung in 14 Fällen und wegen eines Waffendelikts zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Dagegen legte der Angeklagte Revision ein.
Der 17-jährige Sohn des Angeklagten hatte, nach den Feststellungen des Landgerichts, am 11. März 2009 insgesamt 15 Personen erschossen und weitere 14 Personen durch Schüsse verletzt. Die überwiegende Zahl der Opfer waren Schülerinnen und Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden. Der Amoklauf endete damit, dass sich der Sohn des Angeklagten selbst erschoss. Der Sohn hatte sich die Tatwaffe und die Munition vom Angeklagten unbemerkt genommen. Der Angeklagte, ein Sportschütze, hatte beides unverschlossen aufbewahrt. Der Sohn war psychisch auffällig, was der Vater auch wusste. Die Eltern gaben den Sohn in eine ambulante Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Der dortigen Therapeutin berichtete er von Tötungsfantasien. Die Therapeutin unterichtete auch die Eltern davon. Die Eltern kamen der Empfehlung, den Sohn weiterhin in ambulante therapeutische Behandlung zu geben, nicht nach, obwohl sich sein Zustand wieder verschlechterte. Der Angeklagte ermöglichte seinem Sohn in der Folgezeit Schießübungen in einem Schützenverein. Darauf und auf die weiteren vorgenannten Umstände stützte das Landgericht den Fahrlässigkeitsvorwurf, da die Tat des Sohnes für den Vater vorhersehbar und vermeidbar gewesen wäre.
Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf die Verfahrensrüge des Angeklagten hin auf. Es wurde beanstandet, dass die Verteidigung keine Möglichkeit bekam, eine Belastungszeugin zu befragen. Der als Zeugin vernommen ehrenamtlichen Betreuerin der Familie des Amokläufers, die auf Bitte der Polizei tätig wurde, wurde vom Landgericht rechtsfehlerhaft ein Auskunftsverweigerungsrecht zugebilligt. In den drei Verhandlungstagen, in denen sie vernommen wurde, erklärte sie am ersten Tag, der Angeklagte habe ihr gesagt, er sei von der Klinik auch über die Tötungsfantasien seines Sohnes informiert worden. Dieses Wissen um die Tötungsfantasien war hinsichtlich des Fahrlässigkeitsvorwurfs für das Landgericht besonders bedeutsam. Die Verteidigung hatte an diesem Tag keine Möglichkeit mehr, die Betreuerin zu befragen. Am zweiten dieser Verhandlungstage widerrief die Betreuerin ihre Aussage. Sie hatte hierfür eine schriftliche Erklärung vorbereitet, die sie vor Gericht verlas. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft gegen die Betreuerin ein Ermittlungsverfahren wegen versuchter Strafvereitelung ein. Deswegen billigte ihr das Landgericht ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO (ein Zeuge muss sich wegen von ihm begangener Straftaten nicht selbst belasten) zu, weshalb es auch an diesem Vernehmungstag für die Verteidigung nicht möglich war, die Betreuerin zu befragen. Am dritten Vernehmungstag bestätigte die Betreuerin ihre erste Aussage, machte aber im Hinblick auf das Auskunftsverweigerungsrecht keine weiteren Angaben mehr. Auch am dritten Vernehmungstag gab es daher keine Möglichkeit für die Verteidigung, die Betreuerin zu befragen.
Nach Ansicht des BGH hat das Landgericht bei der Prüfung, ob der Betreuerin ein Auskunftsverweigerungsrecht zustand, rechtsfehlerhaft angenommen, dass sie sich schon durch die Anfertigung der von ihr verlesenen Erklärung einer versuchten Strafvereitelung strafbar gemacht habe. Erst mit Verlesung der Erklärung vor Gericht im Rahmen ihrer Zeugenvernehmung hat die Betreuerin möglicherweise eine Strafvereitelung versucht. Für Straftaten, die ein Zeuge erst durch seine Vernehmung begeht, besteht bis zum Abschluss dieser Vernehmung kein Auskunftsverweigerungsrecht. Die Betreuerin hätte daher aussagen und somit auch von der Verteidigung befragt werden müssen. Dieser Verfahrensfehler führte zur Aufhebung des Urteils.
Für eine neue Hauptverhandlung wies der Bundesgerichtshof darauf hin, dass sich der Angeklagte auch dann wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung strafbar gemacht hat, wenn ihm die Tötungsfantasien seines Sohnes nicht bekannt waren. Der Fahrlässigkeitsvorwurf könnte auch dadurch gerechtfertigt sein, dass er entgegen der Empfehlung der Klinik die ambulante Behandlung abbrach und er ihm unbeschadet dessen Schießübungen in einem Schützenverein ermöglichte. Weiterhin kann auch bereits ein Verstoß gegen waffenrechtliche Aufbewahrungspflichten den Vorwurf der Fahrlässigkeit von Straftaten begründen, die voraussehbare Folge einer ungesicherten Aufbewahrung sind.
Die vollständige Entscheidung ist wesentlich umfangreicher und juristisch komplexer formuliert. Die Orginalentscheidung können Sie beim jeweiligen Gericht anfordern. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.03.2012 – 1 StR 359/11 –